Nach ganz oben oder unten: Der Beruf des Industriekletterers im Profil

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Längst nicht jeder Bereich ist frei zugänglich oder kann durch Gerüste, Steiger, Arbeitsbühnen und ähnliche Systeme unkompliziert zugänglich gemacht werden.

Wo anderen schwindelig wird: Industriekletterer meistern höchste Höhen und vielfältige Herausforderungen

An solchen Punkten kommen professionelle Industriekletterer ins Spiel. Sie gehen nicht nur an Orte, bei denen manch anderen schon vom Zusehen schwindlig wird, sondern müssen obendrein äußerst unterschiedliche Aufgaben mit ähnlicher Sicherheit beherrschen wie ihren Kletterharnisch und die Seilknoten.

Was genau machen Industriekletterer?

Wie sieht der typische Tagesablauf eines solchen Kletterspezialisten aus? Vor allem: höchst unterschiedlich. Diese Profis sind eher selten in einem Betrieb fest angestellt. Schlichtweg, weil es dort oftmals nicht genügend Arbeit gibt, die einen dauerhaften Arbeitsplatz für einen Kletterer rechtfertigen würden.

Die allermeisten dieser fachsprachlich auch Höhenarbeiter oder SZP/SZT-Anwender genannten Talente operieren entweder selbstständig oder arbeiten als Angestellte bei Dienstleistern, die derartige Aufgaben Dritten offerieren – typischerweise als B2B-Dienstleistung ausgerichtet. Also von Unternehmen für andere Unternehmen.

Doch was genau macht ein solcher Profikletterer? Tatsächlich lässt sich hier kaum eine Grenze ziehen. Das Aufgabenprofil ist enorm vielfältig. Es reicht prinzipiell vom Anbringen von Sprengladungen an zu beseitigenden Industrieschornsteinen, über Inspektionsarbeiten an Windrädern und Brücken bis zur Reinigung von Fassaden. Industriekletterer erledigen schlichtweg alles, was in solchen Höhen oder Tiefen erforderlich sein kann. Einheitlich sind nur zwei Dinge:

  1. Es geht stets um Aufgaben an Orten, die sich nur von einem Kletterer auf ökonomische Art und Weise erreichen lassen. Etwa, weil es angesichts der Häufigkeit der Aufgabe viel zu kostspielig wäre, dort beispielsweise Leitern zu installieren.
  2. Jeder Industriekletterer muss ein sehr breitgefächertes Skill-Set erwerben. Denn was er macht, nachdem er irgendwo hinaufgeklettert oder sich abgeseilt hat, muss ebenso „Hand und Fuß“ haben, wie das, was durch einen im jeweiligen Feld ausgebildeten Profi gemacht wird – ohne am Seil zu hängen.

Das bedeutet Folgendes: Wer einen solchen Job machen will, der muss nicht nur ein erfahrener Kletterexperte sein, sondern ebenfalls in der Lage sein, sich in die Aufgabenfelder von mitunter mehreren Dutzend unterschiedlichen Handwerksberufen einzuarbeiten. Also körperliche und geistige Ansprüche in Höchstform.

Es versteht sich angesichts dessen vielleicht, dass wir hier von einer sehr kleinen, geradezu elitären (im positiven Sinn gesprochen) Community sprechen.

Gehen wir von denjenigen aus, die nach den Vorgaben des Fach- und Interessenverbands für seilunterstützte Arbeitstechniken e.V. (FISAT, Deutschlands zentrale Interessenvertretung der Höhenarbeiter) zertifiziert sind, dann sprechen wir von etwa 3.000 Personen, die vornehmlich im industriellen Bereich aktiv sind.

Weitere zirka 2.500 Profis sind stärker im forstlichen Bereich als Baumkletterer unterwegs.

Zum Vergleich:

  • Es gibt in Deutschland, alle Ligen zusammengerechnet, etwa 2.500 Profi-Fußballer.
  • Rechnet man alle Land- und Bundestage zusammen, dann bringen wir es auf zirka 2.600 Abgeordnete.
  • Dem gegenüber gibt es aber beispielsweise allein schon 10.000 Berufspiloten im Land.

Es mag ein Nischenberuf sein. Aber einer, der sich definitiv nicht nur aufgrund der Energiewende über reichlich Betätigung freuen darf. Und sowieso sind Langeweile und Routine dort absolute Mangelware.

Ist der Beruf gefährlich?

Zwischen einem Industriekletterer, der gerade unter einer Brücke arbeitet, und einem vielleicht hundert Meter tiefen Fall liegt manchmal nicht mehr als ein etwa fingerdickes Kletterseil. Angesichts dessen fragen sich viele Außenstehende natürlich, wie gefährlich der Job ist.

Die Antwort ist lapidar: Wesentlich weniger riskant, als man annehmen könnte. Todesfälle gibt es hierzulande nur extrem selten, in manchen Jahren keine. Wenn, dann ist oftmals eigenes Fehlverhalten im Spiel, deutlich weniger unzureichendes Material. Das liegt primär daran, weil in Deutschland bei allen Höhenarbeiten eine äußerst stringente Sicherheitskultur zelebriert wird. Gerade Industriekletterer wissen um den extrem schmalen Grat, bei dem es praktisch keinen Raum für verzeihliche Fehler gibt.

Es mag ein Nischenberuf sein. Aber einer, der sich definitiv nicht nur aufgrund der Energiewende über reichlich Betätigung freuen darf. (Foto: AdobeStock - 275146315  Rawf8)

Es mag ein Nischenberuf sein. Aber einer, der sich definitiv nicht nur aufgrund der Energiewende über reichlich Betätigung freuen darf. (Foto: AdobeStock – 275146315 Rawf8)

Denn Fehler sind beim Industrieklettern fast immer gleichbedeutend mit dem Tod oder wenigstens dem Karriereende. Das macht diese Profis, salopp formuliert, zu einem äußerst sicherheitsbedachten Menschenschlag.

Was für Menschen werden Industriekletterer?

So unterschiedlich wie die Aufgaben am Seil sind auch die Hintergründe derjenigen, die den Job machen. Überraschend ist vielleicht, dass tendenziell eher wenige dieser Profis einen Background als vollblütige Alpinisten bzw. Bergsteiger vorweisen. Ebenso sind diejenigen, die wirklich nach jeder Definition „austrainiert“ sind, mit keinem Gramm Körperfett zu viel, in der Minderheit.

Einheitlich ist bei den Bewerbern eher wenig:

  • Absolute Schwindelfreiheit ist natürlich die zentrale Grundvoraussetzung. Theoretisch ist diese Fähigkeit zwar erlernbar, praktisch hingegen ziehen fast ausschließlich Menschen diesen Beruf in Betracht, die von vornherein keinerlei Probleme mit Höhen haben.
  • Körperliche Fitness und Beweglichkeit sind ebenfalls zentral. Letzteres vielleicht noch stärker als ersteres.

    Dicke Muskeln sind aufgrund ihres Gewichts eher hinderlich.

    Sehr viele Industriekletterer sind nicht zuletzt deshalb keine drahtigen Sixpack-Träger, weil es bei den genutzten Klettertechniken viel stärker auf Ausrüstung ankommt als in den klassischen Freizeit-Disziplinen.

    Zudem ist Klettern in diesem Beruf ganz strenggenommen nur ein Mittel, um an den eigentlichen Arbeitsort zu gelangen und dort zu verbleiben, während die Tätigkeit selbst etwas ganz anderes ist.

  • Ein handwerklicher Hintergrund ist gut. Etwa Anlagenmechaniker, Dachdecker, Gerüstbauer oder Industriereiniger. Aber: Eine handwerkliche Ausbildung ist kein Muss. Tatsächlich nicht einmal irgendeine Berufsausbildung.

Letzteres muss man noch präzisieren: Das Industrieklettern ist in Deutschland kein offiziell anerkannter (Ausbildungs-) Beruf. Dennoch gibt es offizielle Regeln für derartige Arbeitsverfahren unter Zuhilfenahme von Seilen. Ebenso existieren durch die Fachverbände ausgearbeitete Kataloge, nach denen praktisch alle Ausbildungen vollzogen werden.

Körperliche Fitness und Beweglichkeit sind ebenfalls zentral (Foto: AdobeStock - 446125994 Alex Vog)

Körperliche Fitness und Beweglichkeit sind ebenfalls zentral (Foto: AdobeStock – 446125994 Alex Vog)

Heißt also, obwohl es keine solche staatlich kontrollierte Einheitlichkeit wie bei vielen anderen Berufen gibt, so ist Industrieklettern definitiv keine „Wildwest-Veranstaltung“, bei der jeder mitmachen kann, der ein Seil besitzt.

Das gilt erst recht, weil praktisch alle Auftraggeber auf entsprechende Ausbildungszeugnisse achten. Wer keines hat, wird schlichtweg nicht beauftragt.

Übrigens: Die Kletterschulen des Landes lassen grundsätzlich nur Menschen zu, die den 18. Geburtstag bereits gefeiert haben. Und ganz sicher freut man sich ebenso über Bewerbungen, die nicht von Männern stammen.

Wie genau wird man Industriekletterer?

Jung, relativ fit, vielleicht handwerklich ausgebildet?

In dem Fall sollte der nächste Schritt darin bestehen, sich an ein Berufskletterzentrum bzw. eine Berufskletterschule zu wenden. Grundsätzlich muss eine solche Ausbildung aus der eigenen Tasche bezahlt werden.

Allerdings sind viele dieser Zentren als Bildungsträger anerkannt. Heißt, es besteht die Möglichkeit, sich die Sache über die Arbeitsagentur oder das Jobcenter finanzieren zu lassen.

Neben einer passenden Schule besteht die zeitgleiche Herausforderung darin, sich für einen Standard zu entscheiden.

Davon gibt es in Deutschland primär zwei – und beide stützen sich auf ein dreigliedriges Ausbildungskonzept, aufgeteilt in Levels, von denen Kletterprofis alle drei absolvieren müssen, um vollumfänglich befähigt zu sein:

Grundsätzlich hat die Entscheidung viel mit Verfügbarkeit und Bauchgefühl zu tun. Bei beiden Verbänden dauert die Ausbildung in jedem einzelnen Level etwa fünf Tage. Dazwischen sind protokollierte Arbeitsstunden für den Aufstieg nachzuweisen (IRATA 1.000, FISAT 250 Tage á min. sechs Stunden.

Hierzulande gibt es erheblich mehr Stätten, die nach FISAT-Regeln ausbilden. Zudem sind diese mittlerweile mit ISO-Standards harmonisiert und daher international ähnlich umfassend akzeptiert – wenigstens theoretisch. Global betrachtet hat die IRATA eine größere Bekanntheit und wird deshalb von dortigen Chefs und Auftraggebern manchmal eher anerkannt, obwohl FISAT eine gleichwertige Ausbildungsqualität bietet.

Wer sich interessiert, kommt also definitiv nicht um etwas eigene Recherche, Rechnen und Einbeziehen der eigenen beruflichen Wünsche herum.

  • Übrigens 1: Beide Ausbildungen beginnen grundsätzlich nur mit einem vorhandenen Nachweis eines bestandenen zweitägigen Ersthilfe-Lehrgangs sowie einer medizinischen G41-Höhentauglichkeitsuntersuchung.
  • Übrigens 2: Es sind stets regelmäßige Auffrischungen vorgeschrieben. Bei IRATA alle drei Jahre der komplette (Level-) Kurs, bei FISAT ein Unterweisungstag alle zwölf Monate.

Wie sehen die Gehalts- und Jobchancen aus?

Das ist natürlich die Gretchenfrage. Was die Jobchancen anbelangt, können Kletterer sich derzeit über mangelnde Nachfrage nicht beklagen. Grund ist vor allem die Energiewende und hier besonders die Errichtung von Windrädern und neuen Stromtrassen. Das sind zudem die Branchen, in denen am ehesten eine Festanstellung möglich ist.

Das ist natürlich die Gretchenfrage. Was die Jobchancen anbelangt, können Kletterer sich derzeit über mangelnde Nachfrage nicht beklagen. (Foto: AdobeStock - 542134274  ivan)

Das ist natürlich die Gretchenfrage. Was die Jobchancen anbelangt, können Kletterer sich derzeit über mangelnde Nachfrage nicht beklagen. (Foto: AdobeStock – 542134274 ivan)

Allerdings kommt das zu einem buchstäblichen Preis: Als Festangestellter bei solchen Unternehmen gibt es oft signifikant weniger zu verdienen als bei einem dedizierten Kletterbetrieb oder einer Arbeit als Freelancer.

Wie immer kommt es naturgemäß auf solche Faktoren wie Region, Erfahrung, Qualifikation und Ähnliches an.

Ganz grob kann man sich bei den Gehältern an denjenigen für „normale“ Handwerker orientieren.

Es ist also beileibe kein extrem gut bezahlter Job. Deutlich mehr geht natürlich, wenn man als Selbstständiger seine eigenen Preise bestimmt – allerdings dann auch nicht nur die eigenen Kletterrisiken tragen muss.

Zudem sei zum Schluss noch auf etwas hingewiesen: Es gibt nur wenige andere Berufe, in denen man in einem so verhältnismäßig jungen Alter schon „alt“ ist wie in diesem.

Für die meisten Industriekletterer ist spätestens kurz nach dem 50. Geburtstag Schluss. Dazu trägt vor allem die hohe körperliche Belastung bei.

Nicht nur bei den zu erledigenden Tätigkeiten, sondern den anstrengenden Zwangshaltungen, die durch den Verlauf des Seils und des Gurtzeugs bestimmt werden.

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